Der Schatten von Nebelheim

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Der Thronsaal von Nebelheim war Rigga noch immer unheimlich. Er schimmerte in einem tiefen, magischen Blau, als Rigga Kalkwinter eintrat. Hinter ihr waren Kazia und Garo, die sofort bereit gewesen waren, sie zu begleiten, als die Bitte aus Nebelheim bekannt wurde.

Der Nebel, der an den Wänden, dem Boden und der Decke hing, schien fast lebendig, und der Thron von Königin Annwn warf ein leuchtendes Blau in den Raum. Rigga schluckte, als sie von einer Wache gestoppt wurde. Wie üblich in Nebelheim trug er einen Kerzenhelm. »Nicht weiter«, zischte er.

Rigga sah sich zu Kazia um, die fragend eine Augenbraue hob. Doch Garo schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. Das konnte sie auch gebrauchen. Immerhin hatte die Königin um Riggas Hilfe gebeten, weil ein Schatten durch Nebelheim schlich und die Menschen in Angst und Schrecken versetzte.

Doch war sie eine Schattenjägerin? Konnte man Schatten überhaupt fangen? Mit Monstern war sie schon fertiggeworden. Doch etwas, das man nicht greifen konnte, schien ihr ein unmöglicher Gegner. Außerdem hatte sie sich auf den Glühbeerenkuchen gefreut, den Bizi – die Küchenhilfe und Freundin von Rigga – derart lecker beschrieben hatte, dass Riggas Magen leise knurrte, wenn sie nur daran dachte, was ihr entging.

Immerhin hatte Bizi ihr ein paar Glühbeeren mitgegeben. Wozu die auch gut sein sollten? Angeblich waren sie ungekocht nicht genießbar. Wahrscheinlich würde sie diese als matschigen Klumpen zurückbringen.

Dann gab die Wache den Weg frei, und Rigga konnte weiter dem Thron entgegengehen. Königin Annwn schien sie mit ihrem Blick zu mustern. Kein Wunder, dachte Rigga. Immerhin hatte sie dem Orakel von Nebelheim – Eclairs – bei ihrem letzten Besuch etwas Fell ausgerissen. Es war ein Versehen gewesen, doch hatte die Königin danach die Beziehungen zu König Artur etwas reduziert.

Als Rigga zwanzig Schritte vor dem Thron war – eine dünne Linie auf dem Boden half dabei, den richtigen Abstand zu wahren – blieb sie stehen und senkte den Kopf.

»Es ist mir eine Ehre, in eurem strahlenden Licht zu erscheinen«, sagte sie laut. Obwohl sie fand, dass es sich bescheuert anhörte, wusste sie doch, dass dieser Spruch hier üblich war, wenn man vor die Königin trat.

Königin Annwn von Nebelheim erhob sich und kam die drei Stufen herunter. Neben ihr hüpfte Eclairs, das kleine, eichhörnchenartige Orakel, dessen Fell in allen Farben schimmerte. Die Königin lächelte freundlich, aber Rigga konnte den amüsierten Funken in ihren Augen sehen. »Willkommen zurück, kleines Orakel von Antia.« Die Königin blieb vor Rigga stehen. »Ich hoffe, du bist diesmal besser vorbereitet.«

Rigga spürte, wie ihre Wangen knallrot wurden, als sie daran dachte, dass sie damals so überrascht gewesen war, als sie das Fell von Eclairs berührt hatte, dass sie ein Stück herausgerissen hatte. »Äh, ja, Königin Annwn«, stammelte sie. »Ich bin hier, um zu helfen.« Sie sah, wie Eclairs, das neben der Königin stand, zu ihr heraufblickte. »Wegen dem Schatten«, sagte Rigga schnell. »Ich möchte hier nichts mehr ausreißen.«

Eclairs quiekte leise und sprang auf Riggas Schulter. »Streichle mich«, sagte es mit seiner hohen Stimme. »Aber wehe, du ziehst auch nur eines meiner Haare heraus.«

Rigga warf der Königin einen unsicheren Blick zu, und als diese nickte, streichelte sie Eclairs vorsichtig. Sofort spürte sie, wie sich die Zukunft öffnete. Ihre Augen verdrehten sich – natürlich nur für den dramatischen Effekt – und sie sah einen dunklen Schatten, der aus einem alten Brunnen aufstieg, umgeben von waberndem Nebel.

»Der Schatten …«, sagte sie mit leiser Stimme. »Er scheint aus einem Brunnen zu kommen.« Dann spürte sie noch etwas, das ihr einen Schauder über den Rücken jagte. »Der Brunnen … er scheint voll mit Angst zu sein.« Eclairs hüpfte wieder herunter, und Rigga sah die Königin langsam nicken. »Der Brunnen der Verlorenen Träume«, sagte sie. »Er wurde vor Jahrhunderten versiegelt, weil er die Ängste der Menschen in Schatten verwandelt hatte. Wahrscheinlich ist das Siegel über die lange Zeit schwächer geworden.« Sie sah Rigga an. »Kannst du ihn erneut versiegeln? Ich gebe dir auch eine Eskorte mit.«

»Wir passen schon auf Rigga auf«, sagte Garo ruhig.

»Jemand muss ja aufpassen, damit sie nicht über die eigenen Füße fällt«, fügte Kazia grinsend hinzu.

Rigga schnaubte, aber insgeheim war sie froh, dass Kazia und Garo bei ihr waren. Sie hatte keine Lust, allein durch den Nebel zu stolpern – vor allem nicht mit einem Schatten im Nacken.


Der Nebel in Nebelheim war dichter, als Rigga es in Erinnerung hatte, und er roch nach feuchtem Stein und etwas Uraltem, Magischem. Sie, Kazia und Garo schlichen durch die Straßen, jeder mit einem Kerzenhelm auf dem Kopf, dessen flackerndes Licht kaum den Nebel durchdrang. Rigga fühlte sich, als würde sie durch eine dicke Suppe waten, und der Gedanke an den Schatten ließ ihr Herz schneller schlagen.

„Ich bin nicht gemacht für so was“, murmelte sie und hielt ihren Beutel mit den Glühbeeren fest umklammert. „Ich sollte in der Burg sitzen, Honiggrütze essen und Visionen haben – nicht Schatten jagen!“ „Hör auf zu jammern“, zischte Kazia, ihre Hand am Schwertgriff. „Wir sind fast da.“

Der Brunnen der Verlorenen Träume tauchte vor ihnen auf, ein dunkles, bemoostes Ding, aus dem ein unheimliches Flüstern aufstieg. Rigga fröstelte, und nicht nur wegen des Nebels. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Zischen, und ein Schatten schoss aus dem Brunnen hervor – ein waberndes Dunkel, das die Form eines verzerrten Gesichts annahm.

„Da ist er!“, schrie Kazia und zog ihr Schwert.

Garo stürzte sich mit gezogenem Schwert auf den Schatten, doch das Wesen wich seinem Schlag aus und schlug zurück, seine nebligen Klauen peitschten durch die Luft. Kazia sprang hinzu, aber der Schatten war zu schnell – mit einem mächtigen Hieb schleuderte er sie und Garo zu Boden, wo sie benommen liegen blieben.

Rigga stolperte rückwärts, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. „Oh nein, oh nein, oh nein!“, rief sie, und natürlich – wie sollte es anders sein – verfing sich ihr Umhang an ihrem Stiefel. Sie fiel unsanft auf den Hintern, und ihr Beutel öffnete sich. Der magische Stein, den Garo ihr einst geschenkt hatte, rollte heraus und landete mit einem leisen Klackern auf dem Boden.

Rigga griff hastig danach, ihre Finger zitterten. Der Stein war ihr kostbar – Garo hatte ihn ihr gegeben. Sie erinnerte sich an sein Lachen, als er sagte: „Der bringt dir Glück, Rigga.“

Der Schatten kam näher, sein Zischen wurde lauter, und Rigga spürte, wie ihre Angst wuchs. Doch als ihre Finger den Stein berührten, öffnete sich eine Vision: Sie sah die Glühbeeren in ihrem Beutel, leuchtend wie kleine Sterne, und sie wusste, dass sie ihre einzige Chance waren.

„Die Glühbeeren!“, keuchte sie und wühlte panisch in ihrem Beutel, während der Schatten fast heran war. Seine nebligen Klauen streckten sich nach ihr aus, und Rigga konnte den kalten Hauch spüren, der von ihm ausging. Im letzten Moment fanden ihre Finger die Beeren. Mit einem verzweifelten Schrei warf sie sie dem Schatten entgegen.

Die Glühbeeren schienen förmlich zu explodieren – ein grelles, buntes Licht erfüllte den Nebel, Rot, Blau und Gold wirbelten durcheinander. Der Schatten kreischte, ein markerschütternder Laut, der Rigga die Ohren zuhalten ließ, bevor er sich in einem Schwall aus dunklem Rauch auflöste. Der Nebel lichtete sich ein wenig, und der Brunnen verstummte.


Der Nebel in Nebelheim hatte sich ein wenig gelichtet, als Rigga, Kazia und Garo in den Thronsaal zurückkehrten, doch die unheimliche Atmosphäre blieb. Diesmal war der Saal fast leer – nur Königin Annwn saß auf ihrem strahlend blauen Thron, und zwei Wachen mit Kerzenhelmen standen reglos an den Seiten. Der Nebel, der an den Wänden hing, schien Rigga zuzusehen, und sie fröstelte, obwohl der Kampf vorbei war.

Kazia und Garo, die sich von ihrem Sturz erholt hatten, flankierten Rigga, doch die Königin hob eine Hand. »Ich möchte mit dem kleinen Orakel allein sprechen«, sagte sie mit ihrer sanften, aber bestimmten Stimme. Die Wachen warfen Kazia und Garo einen Blick zu, und die beiden zogen sich widerwillig zurück, nicht ohne Rigga einen letzten, ermutigenden Blick zuzuwerfen.

Rigga schluckte und trat näher an den Thron heran, bis sie wieder die dünne Linie auf dem Boden erreichte, die den Abstand markierte. Sie senkte wieder den Kopf, wie es der Brauch verlangte und räusperte sich. »Äh, Königin Annwn, es ist mir eine Ehre, in eurem strahlenden Licht zu erscheinen«, sagte sie, und merkte, dass es schon monoton klang, ein Spruch ohne echte Bedeutung. Halt immer noch bescheuert.

Die Königin lächelte und der amüsierte Funke in ihren Augen war wieder da. »Erzähl mir, kleines Orakel, was am Brunnen der Verlorenen Träume geschehen ist.«

Rigga richtete sich auf, ihre Hände fummelten nervös an ihrem Beutel herum, in dem die restlichen Glühbeeren – inzwischen ziemlich zerdrückt – steckten. »Also, äh, es war ziemlich gruselig«, begann sie und kratzte sich am Hinterkopf. »Der Schatten kam aus dem Brunnen, genau wie in Eclairs’ Vision. Er war … na ja, er war aus Angst gemacht, glaube ich. Er hat Kazia und Garo einfach umgehauen – mit so nebligen Klauen, die richtig unheimlich waren! Ich wollte weg, bin aber natürlich gestolpert, weil mein Umhang immer im Weg ist, und dann …« Sie hielt inne, als sie merkte, dass sie abschweifte, und ihre Wangen wurden knallrot. »Äh, also, ich habe den magischen Stein benutzt, den Garo mir mal geschenkt hat, und da hatte ich eine Vision. Die Glühbeeren! Die habe ich dem Schatten entgegengeworfen, und die sind explodiert – in so buntem Licht, Rot und Blau und Gold, und dann war der Schatten weg.«

Königin Annwn nickte langsam, ihre Augen ruhten auf Rigga, als würde sie jedes Wort abwägen. »Und das Siegel?«, fragte sie. »Du hast den Brunnen doch wieder versiegelt, wie ich es dir aufgetragen habe?«

»Ja, das habe ich. Es leuchtete ganz schwach an der Seite des Brunnens. Ich habe meine Hände darauf gelegt und mich konzentreiert, wie ich es gelernt habe. Es leuchtet nun wieder ganz in Blau.« Riggas Blick wanderte zum Thron und ihre Augen weiteten sich. »Das Siegel … es besteht aus demselben Material wie Euer Thron! Dieses Blau, das so leuchtet … das ist doch dasselbe, oder?«

Königin Annwns Lächeln vertiefte sich, und sie nickte anerkennend. »Du hast ein gutes Auge, kleines Orakel. Der Thron und das Siegel wurden vor Jahrhunderten aus demselben Stein geschaffen – ein Stein, der die Magie von Nebelheim bündelt. Es ist gut, dass du das bemerkt hast. Das bedeutet, das Siegel ist stark, solange der Thron unversehrt bleibt.«

»Oh«, sagte Rigga.

Die Königin lachte leise, ein warmes, melodisches Geräusch, das den Nebel im Saal zu vertreiben schien. »Keine Sorge, Rigga. Der Thron ist gut geschützt. Und du hast deine Aufgabe erfüllt – besser, als ich erwartet habe. Du magst tollpatschig sein, aber du hast das Herz eines wahren Orakels.«

Rigga grinste, ihre Wangen immer noch rot. »Danke, Königin Annwn. Ich … ich hoffe, ich muss nie wieder einen Schatten jagen. Aber wenn doch, dann bringe ich mehr Glühbeeren mit!«

Die Königin schmunzelte. „Das ist ein guter Plan. Und jetzt geh zurück nach Antia. Dort wartet man sicher auf dich.«

Rigga verbeugte sich – diesmal ohne zu stolpern – und verließ den Thronsaal mit einem breiten Lächeln.


Zurück in der Burg von König Artur saß Rigga an einem Tisch in der Küche, ein großes Stück Glühbeerenkuchen vor sich. Sie mampfte genüsslich, während Bizi ihr zusah und Abraxo, der kleine Kobold mit grüner Haut und orangen, wuscheligen Haaren, sie mit seinen ungleichen Augen – eines rund wie ein Taler, das andere geschlitzt – neugierig beobachtete. Abraxo, der dem Foltermeister Schartig half, hatte eine Schwäche für Bizi, und Rigga konnte sehen, wie er immer wieder verstohlene Blicke in Bizis Richtung warf.

»Na, kleines Orakel, du siehst zufrieden aus«, sagte Bizi und stemmte die Hände in die Hüften. »War dein Abenteuer in Nebelheim so erfolgreich?«

Rigga grinste, Krümel des Kuchens fielen auf den Tisch. »Oh ja! Ich habe den Schatten besiegt, das Siegel versiegelt, und diesmal habe ich kein Fell ausgerissen. Königin Annwn war richtig beeindruckt – sie hat gesagt, ich habe das Herz eines wahren Orakels!« Sie lehnte sich zurück, ihre Brust vor Stolz geschwollen. »Und dieser Kuchen … der ist fast so gut wie der Sieg über den Schatten.«

Abraxo kicherte, seine Stimme klang wie ein quietschendes Scharnier. »Kann ich etwas vom Kuchen abhaben?«

Rigga schob ihm ein kleines Stück zu. »Nur, weil du so nett fragst.« Sie grinste. »Sonst würdest du die ganze Zeit versuchen, mir etwas davon zu stibitzen!«

Bizi lachte leise. »Du hast es dir verdient, Rigga. Aber nächstes Mal solltest du besser auf Garo und Kazia aufpassen.«

»Ich werde es versuchen«, sagte Rigga und nahm einen weiteren Bissen. Sie lehnte sich zurück, den Geschmack der süßen Glühbeeren noch auf der Zunge, und dachte an den Brunnen. Der Schatten war besiegt, aber sie hatte das Gefühl, dass weitere Abenteuer da draußen auf sie warteten. Doch zuerst musste der Kuchen aufgegessen werden.