Der singende Stein
by Neotomaxpublished on
Die Marktstraße von Antia-Stadt war wie immer voller Leben. Händler riefen ihre Preise aus, Kinder liefen lachend zwischen den Ständen umher, und der verlockende Duft von frisch gebackenem Honigbrot wehte aus den Bäckereien.
»Ich liebe diesen Ort«, sagte Rigga und biss in ein noch warmes Stück Brot, das ihnen Bizi mitgegeben hatte. Auch Kazia, mit der sie mittlerweile eine Freundschaft verband, kaute begeistert an einer Brotrinde.
»Ich liebe ihn weniger, wenn ich dich davon abhalten muss, unser gesamtes Geld für Essen auszugeben«, erwiderte Kazia und zog sie weiter.
»Hmmpf«, murmelte Rigga mit vollem Mund.
Doch dann blieb sie abrupt stehen. Vor einem kleinen Stand, zwischen alten Büchern und verstaubten Schriftrollen, lag ein merkwürdiger Stein – glatt, leicht schimmernd und mit feinen goldenen Adern durchzogen.
»Was ist das?«, fragte Rigga fasziniert.
Der alte Händler hinter dem Stand, ein gebeugter Mann mit einem langen weißen Bart, schmunzelte. »Das, meine Liebe, ist ein singender Stein.«
»Singend?«, fragte Kazia zweifelnd. »Er sieht nett aus, aber Steine können nicht singen.«
»In den richtigen Händen soll er Melodien summen und die Stimme seines Besitzers verstärken«, erklärte der Händler. »Ein solcher Stein hat dem berühmten Barden Warsel Schnatterbart geholfen, die allerliebsten Lieder zu singen. Ihm sind alle Frauenherzen zugeflogen.« Er blinzelte die zwei jungen Frauen an, die vor ihm standen, und räusperte sich. »Aber sicher lassen sich mit einer liebreizenden Stimme auch Männerherzen gewinnen.« Er streckte sich ein wenig. »Es ist ein wahres Wunder!«
»Oder ein Haufen Unsinn«, murmelte Kazia skeptisch.
»Ich will ihn haben«, sagte Rigga sofort und zog ihre Münztasche hervor.
»Ich wusste es«, seufzte Kazia.
Der Händler grinste und nahm das Geld entgegen. »Seid gewarnt: Der Stein wählt seine Besitzer. Wer ihn nicht würdig ist, erlebt … nun ja, unangenehme Überraschungen.«
»Was soll das denn bedeuten?«, fragte Rigga. Doch als sie den Stein aufhob, summte er sanft – ein leises, fast beruhigendes Geräusch.
»Das werden wir herausfinden«, sagte Kazia seufzend. »Ich hoffe, du hast nicht vor, die ganze Nacht zu trällern.«
Zurück in der Burg zeigte Rigga den Stein stolz Bizi, die gerade dabei war, eine riesige Schüssel Teig zu kneten.
»Ein singender Stein? Wirklich?«, fragte Bizi und sah sie misstrauisch an.
»Ja, schau!« Rigga hielt den Stein hoch und räusperte sich. »La, la, laaa!«
Ein tiefer, brummender Ton ertönte aus dem Stein, gefolgt von einer schiefen, völlig unkontrollierten Melodie.
Bizi zuckte zusammen. Kazia hielt sich die Ohren zu.
»Das … war schrecklich«, sagte Kazia trocken.
»Was? Nein, das war …« Rigga wollte erneut singen, doch plötzlich begann der Stein wild zu vibrieren – und explodierte in eine Wolke aus violettem Staub.
Einen Moment lang starrte sie auf den zu Boden rieselnden Staub. Dann lachte Bizi.
»Singender Stein? Da hat euch aber jemand reingelegt.«
»War wohl zu erwarten«, murmelte Kazia.
Rigga wollte auch etwas sagen, doch sie bekam kein Wort heraus. Erschrocken sah sie Bizi an, gestikulierte wild und versuchte weiter, irgendeinen Ton herauszubringen.
»Entweder möchtest du den Teig kneten, oder deine Stimme ist futsch«, sagte Bizi.
Erneut gestikulierte Rigga und deutete immer wieder auf ihren Hals.
»Oh nein«, sagte Bizi. »Das ist nicht gut.«
»Nicht gut?«, rief Kazia. »Sie kann nicht mehr sprechen! Das ist schrecklich!«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Bizi.
Kazia stemmte die Hände in die Hüften. »Wir gehen zu diesem bekloppten Händler zurück.« Sie zog Rigga mit sich. »Ich hoffe für ihn, dass er uns helfen kann«, murmelte sie.
Als sie zu dem Stand zurückkehrten, saß dort der alte Mann nicht mehr. Stattdessen stand ein junges Mädchen hinter dem Tisch und lächelte sie freundlich an.
»Wo ist der alte Saftsack mit dem langen Bart?!«, rief Kazia laut. »Er hat meiner Freundin die Stimme geklaut!«
»Ein singender Stein?«, fragte das Mädchen vorsichtig.
»Ja. Der hat sich einfach in eine Staubwolke verwandelt, und jetzt ist meine Freundin sprachlos.« Kazia stützte ihre Hände auf den Verkaufstisch. »Auch wenn sie manchmal nerven kann und man sich wünscht, sie würde mal aufhören zu plappern, möchte ich … Aua!« Rigga hatte ihr auf den Fuß getreten. Kazia schüttelte den Kopf. »Du musst nur sagen, was du willst.«
»Mein Großvater ist einer der Klanghüter«, sagte das Mädchen leise. »Er ist bereits auf dem Weg zurück in die Resonanzhöhen. Vielleicht kann er euch helfen.«
»Resonanzhöhen?«, fragte Kazia.
»Sie liegen unweit des Weißen Waldes. Dort leben die Klanghüter.«
Kazia verdrehte die Augen und drehte sich zu Rigga um. »Da siehst du, was du davon hast. Jetzt dürfen wir auch noch zu den bescheuerten Resonanzdingern reisen.«
»Resonanzhöhen«, verbesserte das Mädchen, doch Kazia ignorierte sie und zog Rigga mit sich.
Sie nahmen Rasierklinge – das Pferd, das Neston Ginrig, dem Schatzmeister des Königs, gehörte – und waren bald bei den Resonanzhöhen angekommen. Diese entpuppten sich als ein Gebirge, in das jemand willkürlich Musiknoten hineingehämmert hatte.
Sie folgten einem kleinen Pfad, der sie weiter hinauf bis zur Höhle eines alten Einsiedlers führte. Unverkennbar war dies der Händler. Kazia schnaubte und sprang – elegant wie immer – vom Pferd. Rigga, die unbeholfen vom Pferd rutschte, hinfiel und und stumm schimpfte, sah sie nicht.
»Du bärtiger Faltensack!«, rief sie und stapfte auf den Mann zu, der sie freundlich anlächelte. »Meine Freundin hat keine Stimme mehr, weil du ihr diesen dämlichen Stein aufgeschwatzt hast!«
»Ihr habt einen singenden Stein falsch benutzt?«, fragte der Klanghüter.
Rigga nickte heftig.
»Tja, das kommt davon. Diese Dinger haben einen eigenen Willen«, sagte der Alte und lachte. »Aber es gibt einen Weg, ihre Macht wieder unter Kontrolle zu bringen.«
Der Klanghüter führte Rigga in eine Höhle voller schwebender Kristalle.
»Sing, aber ohne Worte«, befahl er.
Rigga schloss die Augen und summte vorsichtig. Die Kristalle begannen zu vibrieren.
Langsam, mit jedem Ton, fand sie ihre Stimme wieder.
»Ich kann wieder sprechen!«, rief Rigga, als sie aus der Höhle kam. »Meine Stimme ist wieder da!«
»Hier ist ein weiterer singender Stein. Seid diesmal vorsichtiger«, sagte der Klanghüter.
Kazia schüttelte den Kopf, als Rigga sich bedankte und den Stein tatsächlich annahm.
Als sie zur Burg zurückkehrten, hielt Rigga den neuen singenden Stein fest in ihrer Hand. Diesmal fühlte er sich anders an – nicht nur warm und leicht summend, sondern irgendwie lebendig, als würde er auf ihre Berührung reagieren. Sie warf Kazia einen vorsichtigen Blick zu, die mit verschränkten Armen neben ihr herging und immer noch skeptisch dreinschaute.
»Diesmal werde ich ihn nicht einfach so benutzen«, sagte Rigga entschlossen. »Der Klanghüter hat gesagt, ich soll ohne Worte singen. Vielleicht … vielleicht muss ich ihn erst verstehen, bevor ich ihn benutze.«
Kazia hob eine Augenbraue. »Das ist das erste Mal, dass du über etwas Magisches nachdenkst, bevor du es ausprobierst. Ich bin beeindruckt. Aber ich warte immer noch darauf, dass er wieder explodiert.«
Rigga ignorierte sie und suchte sich eine ruhige Ecke im Innenhof, wo der Wind sanft durch die alten Eichen pfiff. Sie setzte sich auf eine steinerne Bank, den singenden Stein in ihren Händen, und schloss die Augen. Sie erinnerte sich an die Worte des Klanghüters: Sing, aber ohne Worte. In der Höhle hatte sie gesummt, und die Kristalle hatten reagiert – nicht auf ihre Stimme, sondern auf ihre Gefühle, ihre Intention.
Vielleicht war das der Schlüssel. Der Stein war kein Spielzeug, das man einfach benutzen konnte, um schöne Lieder zu singen. Er war ein Werkzeug, das Harmonie verlangte – zwischen dem Sänger und seiner inneren Melodie.
Rigga atmete tief ein und begann, leise zu summen. Sie dachte an die Marktstraße von Antia-Stadt, an das Lachen der Kinder, den Duft von Honigbrot, an die Freundschaft mit Kazia und Bizi. Sie ließ all diese Erinnerungen in ihr Summen einfließen, ohne Worte, nur mit Gefühl. Der Stein begann sanft zu vibrieren, und diesmal war es kein chaotisches Brummen. Eine klare, sanfte Melodie erklang, wie das ferne Läuten von Glocken, das sich mit dem Wind vermischte. Die Töne schwebten durch den Innenhof, und selbst die Vögel in den Bäumen schienen innezuhalten, um zuzuhören.
Kazia, die in der Nähe an einer Mauer lehnte, richtete sich überrascht auf. »Das … klingt tatsächlich schön«, sagte sie widerwillig. »Was hast du anders gemacht?«
Rigga öffnete die Augen und lächelte, während der Stein weiterhin seine Melodie spielte. »Ich habe nicht versucht, ihn zu zwingen. Ich habe einfach … gefühlt. Der Klanghüter hatte recht: Der Stein wählt seine Besitzer, aber er verlangt auch, dass man ihn respektiert. Ich glaube, beim ersten Mal war ich zu ungeduldig. Ich wollte, dass er für mich singt, aber ich habe nicht zugehört, was er von mir wollte.«
Kazia schnaubte, aber ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen. »Na gut, das klingt weise. Aber ich warne dich – wenn du jetzt anfängst, den ganzen Tag zu trällern, werfe ich den Stein in den Burggraben.«
Rigga lachte. »Keine Sorge. Ich werde ihn nur benutzen, wenn es wirklich wichtig ist.
Vielleicht … um eines Tages ein Lied für uns zu schreiben. Für dich, für Bizi, für Antia-Stadt.«
»Ach, willst du jetzt die kleine Bardin von Antia werden?« Kazia lachte laut. »Bleib unser
Orakel und versuch auch nicht, deine Prophezeiungen zu singen. Bitte.«
Rigga schaute auf den Stein und dann grinste sie. »Vielleicht.«