Matsch, Milch und Monarchen
by Neotomaxpublished on
Das Zelt war klein und bot kaum genug Platz für die beiden einfachen Pritschen, auf denen Rigga und Kazia sich jede Nacht in den Schlaf wälzten. Der aus einer alten Kiste bestehende Tisch zwischen den Pritschen hatte Rigga schon etliche spitze Schreie und ordentliche Flüche entlockt. Von den blauen Flecken ganz zu schweigen. Es war ihr ein Rätsel, wieso Kazia diese Probleme nicht hatte.
»Steinwölfe!«, sagte der kleine Kobold, der auf Kazias Pritsche stand und mit den Armen fuchtelte, als würde er Fliegen verscheuchen wollen. »Unbesiegbar!«, rief er. »Niemand hat sie jemals besiegt«, setzte er nach ohne zu merken, dass er sich damit wiederholte.
Rigga schüttelte amüsiert den Kopf. »Das ist doch Unfug, Kakbüx«, sagte sie schmunzelnd. »Niemand weiß mehr über diese Steinwölfe und es gibt niemanden, der sie wirklich gesehen hatte. Die sind nicht unbesiegbar, sondern nur eine Geschichte, um kleinen Magiern Angst zu machen.«
Kakbüx stand auf einmal still und starrte Rigga empört an. »Was ist mit Frutzelheim?«
»Keine Ahnung?«, antwortete Rigga. »Was soll mit ihm sein.«
Kakbüx schnaubte. »Frutzelheim war einst einer der mächtigsten Magier Antias. Er hatte den Ruf, dass er jede Herausforderung annehmen würde und es gab Gerüchte, dass er zum Herrscher Antias aufsteigen würde, wenn ihn niemand aufhielte.«
»Klar«, sagte Rigga und schaute zu der flackernden Laterne, die das Zelt erhellte. Es war früher Morgen und obwohl die Sonne bereits schien, war es im Zelt sonst zu dunkel.
»Frutzelheim«, setzte Kakbüx fort, »war ein ziemlich rücksichtsloser Mensch. Als er von den Steinwölfen erfuhr und von ihrer Macht, wollte er diese für sich.« Wieder gestikulierte Kakbüx mit seinen kurzen Armen. »Er suchte lange nach ihnen und fand sie schließlich.« Er senkte die Stimme ein wenig. »Oder vielleicht haben die Steinwölfe auch ihn gefunden. So genau weiß man es nicht.«
»Okay«, sagte Rigga, jetzt neugierig geworden. »Was ist passiert?«
»Frutzelheim hatte sie herausgefordert und suchte den Kampf, bis schließlich… Puff!« Kakbüx sprang in die Luft, die kleinen Arme wild rudernd, und stieß prompt gegen die Zeltdecke. Die Laterne geriet ins Schwingen – und bevor Rigga überhaupt reagieren konnte, knallte sie ihr genau gegen die Stirn.
»Aua! Verdammt!«, rief Rigga und klatschte eine Hand an ihre schmerzende Stirn, während die andere reflexartig nach der Laterne griff, um deren schaukelnde Angriffe endgültig zu stoppen. Sie blinzelte zu Kakbüx hinüber, der auf seiner Pritsche stand und den Vorfall mit großen Augen beobachtete.
»Ich hoffe dieses Puff lohnt sich.«
Kakbüx kicherte leise. »Nun, sie haben ihm alles genommen. Der große Frutzelheim verlor all seine Magie und kehrte als einfacher Mann zurück von seiner Suche. Danach zog er durch die Lande als Geschichtenerzähler. Sein Name geriet ebenso in Vergessenheit.« Er sah Rigga ernst an. »Das haben die Steinwölfe ihm angetan und deshalb gelten sie für manche als Hüter Antias.« »Pech für den alten Frutzelheim«, sagte Rigga kichernd.
Doch Kakbüx schüttelte den Kopf. »Doch als die Dunkle Macht nach Antia griff, war nichts von den Steinwölfen zu sehen. Als hätten sie Antia aufgegeben.« Bevor Rigga antworten konnte, wurde das Zelt mit einem lauten Ratsch geöffnet. Kazia Po-Kal, diese wunderschöne Rekrutin, deren Anmut Rigga immer wieder beeindruckte, stürmte herein. Wie immer sah sie tadellos aus, bis auf die Stiefel, die wohl in Matsch gesteckt hatten.
»Rigga! Komm mit. Sofort!« Kazias Gesicht war vor Aufregung gerötet.
Rigga hob abwehrend die Arme und schüttelte den Kopf. »Kakbüx erzählt mit gerade die Legende der Steinwölfe. Das ist spannend.«
»Vergiss die blöden Steinwölfe! Raus mit dir!« Kazia packte Riggas Handgelenk, zog sie auf die Füße – und prompt krachte Riggas Kopf ein zweites Mal gegen die unberechenbare Laterne. »Argh! Diese verfluchte…«, begann Rigga, aber Kazia ließ ihr keine Zeit, den Satz zu beenden. Mit einem Schwung zog sie Rigga Richtung Zeltausgang, dicht gefolgt von Kakbüx, der sich vor Lachen krümmte.
Draußen erwartete sie der kalte Morgen. Rigga, die noch nicht ganz wach war, setzte ihren Fuß genau auf eine matschige Stelle vor dem Zelt. Der Boden rutschte unter ihr weg, und sie landete rücklings in einer Schlammkuhle, die deutlich tiefer war, als sie erwartet hatte. Das kalte Wasser sickerte augenblicklich durch ihre Kleidung.
»Ernsthaft?« Kazia sah sie an und verdrehte nur genervt die Augen. Rigga stöhnte und versuchte sich wieder aufzurappeln – nur um mit einem lauten Platschen erneut hinzufallen. Schlamm spritzte bis zu Kazias Gesicht, deren makellose Stiefel schon genug gelitten hatten.
»Sag mir, dass das keine Absicht war.«, sagte Kazia, während sie sich Schlammspritzer aus dem Gesicht wischte.
»Natürlich war es Absicht«, brummte Rigga und warf ihr einen genervten Blick zu. Erst jetzt bemerkte sie die drei Reiter, die auf ihren Pferden vor dem Zelt warteten. Ihre gelben Uniformen strahlten vor Sauberkeit, und obwohl sie versuchten ernst zu bleiben, spielten ihnen die Zuckungen ihrer Mundwinkel einen Streich. Rigga kniff die Augen zusammen, um die Reiter genauer zu betrachten. Ihre schlammverschmierten Hände blieben in der Luft stehen.
»Garo?!« Sie schnappte nach Luft und fühlte, wie Hitze in ihre Wangen stieg. »Von allen Ärschen in Antia musste es ausgerechnet Garo sein?!«“
»Oh, großartig«, murmelte Kazia. »Das wird ein langer Tag.«
Garo musterte Rigga mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung. »Ich sehe, du trainierst fleißig. Jedes Schlamm-Monster wird sich vor dir fürchten.«
Rigga schnaufte und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wünschte sie würde dabei nicht in einer Schlammpfütze sitzen. »Das war nur ein taktischer Rückzug. Ehrlich.«
Die Soldaten gaben jetzt auch glucksende Geräusche von sich und Garos Pferd senkte den Kopf um Rigga neugierig anzustupsen.
»So muss sich Fruztelheim auch gefühlt haben«, seufzte sie.
Garo sprang vom Pferd und stapfte durch den Matsch direkt auf Rigga zu. Seine Stiefel platschten bei jedem Schritt, doch er schien die Kälte und den Dreck kaum zu bemerken, während er die Hand nach ihr ausstreckte. Auf seinem Gesicht lag ein verlegenes Lächeln.
»Ich würde ja sagen, es ist schön dich zu sehen. Aber…« Sein Lächeln wurde breiter. »Du siehst eher wie eine Schlammelfe aus.«
Rigga nahm seine Hand und ließ sich widerwillig von ihm hochziehen. Er sagte leise. »Rigga, ich bin es doch.«
Als sie auf den Beinen stand stemmte sie die Hände in die Hüften und funkelte Garo an. Schlamm tropfte von ihren Händen und ihrem Kleid. »Ah, du bist der Garo, der sich nie meldet? Oder etwa der Garo, dem ich egal bin?« Ihre Stimme war so süß wie leicht vergammelter Hornbeerkuchen.
Garo zuckte zusammen und sein Lächeln erstarb. »Rigga, ich…«
»Lass mich raten«, unterbrach sie ihn. »Du warst so beschäftigt, dass du vergessen hast, dass ich hier in diesem Monsterlager sitze und mich über eine Nachricht von dir freuen würde?« Sie setzte einen ihrer Finger auf seine Brust. »Oder hatte dir jemand beide Arme gebrochen, dass du mir keinen Brief schreiben konntest?«
Garo hob die Hände. »Es tut mir leid, Rigga, wirklich! Aber ich…«
Kazia musterte Garo mit einem Blick, der ihn fast zum Erröten brachte. »Du hast dir wirklich Zeit gelassen«, sagte sie trocken. »Vielleicht solltest du dir besser überlegen, was du ihr zu sagen hast. Sie ist nicht mehr so geduldig wie früher.«
»Ach, vergiss es!« Rigga drehte sich um und stapfte ein paar Schritte weg, ehe sie abrupt stehen blieb. »Was machst du überhaupt hier?«
Garo kratzte sich verlegen an der Nase. »Ich bin hier, um dich zurück zur Burg zu bringen. König Artur und viele weitere Könige, Fürsten und andere wichtige Leute haben sich versammelt, weil sie von dir hören wollen, was du erfahren hast.« Er bemühte sich um ein ehrliches Lächeln. »Sie wollen es von dir hören.«
»Und Garo hat sich freiwillig gemeldet…«, sagte Kazia und sah ihn erwartungsvoll an.
»Ich wollte es sein, der dich zurück zur Burg holt«, sagte er schnell.
»Weil du ihm…«, soufflierte Kazia weiter.
Garo sah sie an und seine Wangen röteten sich. Dann sah er Rigga an. »Weil du mir wichtig bist.«
»Könige und Fürsten erwarten mich?« Rigga riss die Augen auf. Dann sah sie an sich herunter. »Und ich sehe aus, wie ein schlammiger Kobold?!« Dann bemerkte sie Kakbüx, der sie fragend ansah. »Das war natürlich nicht persönlich gemeint.«
Kakbüx hob die Hände. »Solange du von meinen Keksen bleibst, nehme ich nichts persönlich.«
»Es ist dringend, Rigga« Garo trat wieder näher. »Dein Wissen über den Wald könnte alles verändern. Sie wollen es von dir hören.«
Rigga nickte. »Gut. Aber so kann ich nicht vor ihnen auftreten. Ich sehe aus, als habe ich mit einer Horde Knorzschweine gerungen und verloren.«
»Das könnte man so sagen«, meinte Kazia leise. Sie hatte sie alles mit verschränkten Armen angehört.
Garo sah sie an. »Du kommst auch mit.«
Kazia hob eine Augenbraue und dann sah sie auch an sich herunter. Der Matsch hatte auch bei ihr Spuren hinterlassen. »Verdammt!« Sie stapfte hinter Rigga her.
Kurze Zeit später kam Rigga in einem schlichten aber sauberen Kleid zurück. Sie hatte sich schnell gewaschen, aber es ärgerte sie, dass Kazia schon wieder makellos sauber neben den Pferden stand und sich mit Garo leise unterhielt.
»Endlich«, rief Kazia. »Das kleine Orakel ist bereit vor die königlichen Herrschaften zu treten und Antia ein weiteres Mal zu retten.«
»Zumindest bereit, nicht wie ein matschiger Kobold zu wirken.« Rigga ließ sich von Garo in den Sattel helfen. »Also los, bevor der König es sich anders überlegt.«
Die Gruppe setzte sich in Bewegung, die Pferde stapften durch den Matsch. Rigga versuchte, ihre Nervosität zu überspielen, während sie sich fragte, was sie dem König und den versammelten Fürsten sagen sollte. Doch eine Frage brannte ihr besonders auf der Seele.
»Garo«, begann sie, ohne ihn anzusehen, »du schuldest mir immer noch eine Erklärung.«
»Ich weiß«, sagte er ruhig. »Aber vielleicht erkläre ich es dir besser nachdem du deine Rede gehalten hast.«
Er sah sie an, und für einen Moment schien es, als wolle er mehr sagen. Doch er schloss den Mund wieder und richtete den Blick nach vorne. Es schien, als läge ihm etwas auf dem Herzen, das sich nicht so leicht erklären ließ.
Rigga verdrehte die Augen, aber ihre Brust fühlte sich schwer an. »Natürlich«, murmelte sie leise. »Genau die Antwort, die ich wollte.«
Als sie sich der Burg näherten, schien die Sonne erbarmungslos vom Himmel und trocknete die matschigen Wege. Doch leider sorgte sie auch dafür, dass Rigga nun schwitzte. Im Thronsaal würde sie als stinkendes Orakel stehen.
Jetzt konnten sie sehen, dass vor den Stadtmauern Zelte in allen Farben standen. Wimpel, Banner und Fahnen wehten im Wind und der Lärm von Soldaten und Pferden erfüllte die Luft. Es war ein beeindruckender Anblick, aber es wirkte auch wie ein fürchterliches Chaos.
»Das ist ja wie ein Jahrmarkt«, sagte Rigga und schüttelte den Kopf. »Aber Froschzuckerwatte gibt es hier wohl nicht.«
Garo grinste. »Ist das nicht beeindruckend? All diese Leute unterzubringen war eine echte Herausforderung. Jeder König, Fürst und sogar die Barone, die sonst kaum aus ihren Burgen kriechen, wollten dabei sein.«
Als sie näher kamen, erspähte Rigga eine Gruppe von Zwergen, die lautstark darüber diskutierten, wer das nächste Bierfass schleppen musste. Die Zwerge hoben den Blick und musterten Rigga und ihre Begleiter argwöhnisch.
Einen Moment später entdeckte Rigga das Wappen von Rotstreifental und hielt unwillkürlich inne, als sie ein bekanntes Gesicht entdeckte. Tobler, ihr erster - und vielleicht einziger - Fan winkte ihr zu. Zwei mechanische Vögel flatterten über seinem Kopf und wirkten, als würden sie einen Tanz aufführen.
»Rigga«, rief Tobler erfreut und stürmte auf sie zu. Alle hatten ihre Pferde angehalten. »Du bist zurück?«
Rigga lächelte erfreut und wollte vom Pferd springen. Doch Garo griff nach ihrer Hand. »Wir haben leider keine Zeit für einen Kaffeeklatsch.«
»Das ist Tobler! Er ist kein Kaffeeklatsch, er ist… wichtig!« Rigga warf Garo einen bösen Blick zu.
Tobler stand nun neben ihrem Pferd. Sein Blick wanderte zwischen Garo und ihr hin und her. »Wie geht es deinem mechanischen Vogel?«
Rigga bemühte sich wieder zu lächeln. »Ihm geht es gut. Ich werde dich später besuchen. Dann können wir reden, ja?«
Tobler wirkte enttäuscht, hob aber tapfer das Kinn. »Bitte vergiss es nicht. Ich habe etwas für dich.«
»Später, ganz sicher!«, rief Rigga über die Schulter, weil Garo schon weiterzog und ihr Pferd den anderen folgte.
Rigga blickte noch einmal über die Schulter zu Tobler. Sein enttäuschter Blick stach in ihr Herz, doch sie konnte nicht anhalten. »Ich verspreche es«, flüsterte sie, obwohl sie wusste, dass Versprechen in diesen Tagen schwer zu halten waren.
Sie hätte gerne mit Tobler geredet – bestimmt hatte er wieder ein paar seiner seltsamen Erfindungen im Gepäck. Doch als sie zur Burg kamen, sah sie, dass es hier genauso chaotisch war wie im Lager vor der Stadt. Diener huschten mit ernsten Gesichtern hektisch umher, Soldaten standen an vielen Ecken und Rigga hatte das Gefühl, dass hier jeder etwas zu tun hatte.
»Da bist du ja endlich!« Die energische Stimme von Volvo Tamowitz, dem amtierenden Orakel von Antia und damit ihre Ausbilderin, ließ sie zusammenzucken. Volvo stand am Rand einer breiten Treppe, ihre Hände in die Hüften gestemmt, und ihr Blick war ernst. »Habt ihr unterwegs die Gräser gezählt oder was hat euch so lange aufgehalten?«
»Wir sind so schnell wie möglich gekommen. Leider hatten wir ein Problem mit dem Matsch.«
Volvo hob die linke die Augenbraue. »Haben euch Matsch-Pfuis aufgelauert?« Sie sprach von den flachen Wesen, die es liebten in Pfützen oder schlammigen Löchern auf Opfer zu lauern. »Das sollte doch nun wirklich kein Problem mehr darstellen. Oder wurde jemand von ihnen gefressen?«
Rigga presste die Lippen aufeinander. »Offensichtlich nicht.« Kazia kicherte leise. Volvo verdrehte die Augen und winkte sie zu sich heran.
»Dann lass uns mal die hohen Herrschaften nicht länger warten lassen. Sie sind schon ungeduldig, wie ein Rudel hungriger Wölfe.«
»Toll«, sagte Rigga leise. »Denen werde ich jetzt zum Fraß vorgeworfen.«
»Du schaffst das schon«, sagte Kazia und klopfte ihr auf die Schulter. »Ich bin allerdings froh, nicht in deinen Schuhen zu stecken.« Damit wandte sie sich ab, und Rigga eilte hinter Volvo her.
Der Weg zum Thronsaal glich einem Hindernisparcours. Eine Dienerin mit einem riesigen Tablett voller Brotlaibe stolperte fast über einen Botschafter, der eilig Papiere durchblätterte. Ein Soldat versuchte, eine rote Ratte mit seinem Schwert zu verscheuchen, während eine zweite ihm auf den Schuh kletterte. »Zum Teufel mit diesen Biestern!«, fluchte er laut.
Volvo bahnte sich den Weg mit ihrer üblichen unerschütterlichen Energie, während Rigga hinterher hastete. Erst jetzt bemerkte sie, dass Garo ihnen ebenfalls folgte.
Dann standen sie vor den großen Toren des Thronsaals und Volvo wandte sich zu ihr um. »Rigga, hör zu«, sagte sie laut genug, um das murmelnde Geräusch der vielen Stimmen zu übertönen. »Die Menschen da drin - Könige, Fürsten, große Namen, die meinen, sie wären der Nabel der Welt - erwarten, dass du ihnen eine Geschichte präsentierst, die Antworten auf ihre Fragen enthält.«
»Großartig«, seufzte Rigga und sah zu den geschlossenen Türen des Thronsaals. Gleich würden alle Augen auf sie gerichtet sein und was hatte sie überhaupt zu sagen? Sie war nur eine junge Frau, ein Orakel in Ausbildung. Sie war doch eigentlich viel zu unwichtig. Man würde sie bestimmt auslachen.
»Was, wenn ihnen nicht gefällt, was ich sage?«
»Dann improvisiere«, sagte Volvo und klopfte ihr auf die Schulter. »Du bist gut darin, Unsinn glaubhaft klingen zu lassen. Ich wette, du hättest den Monstern im Wald einreden können, dass sie Vegetarier werden sollten.«
Garo prustete los vor Lachen, doch Rigga schüttelte nur den Kopf. »Das macht es nicht einfacher.«
Die Türen öffneten sich, und Rigga sah die vielen Gesichter, die sich auf sie richteten. Ihr Magen krampfte sich zusammen, doch Volvo schob sie energisch nach vorne. »Zeig ihnen, wer du bist, Rigga. Die mächtigsten Leute haben Angst vor einer lauten Wahrheit. Also sei laut, wenn sie dich nicht hören wollen.«
Rigga holte tief Luft und betrat den Raum. »Na gut… dann eben ins Getümmel.«
Durch die farbenfrohen Glasfenster wurden bunte Flecken auf die hohen Wände des Thronsaals und auf die gedrängte Menge aus Königen, Fürsten und Baronen, die in ihren prächtigen Gewändern wie neugierige Pfaue wirkten, geworfen. Rigga fühlte sich, als müsse sie durch ein Schlangennest waten. Nur dass Schlangen nicht so schwitzen, wie sie. Sie wischte sich verstohlen etwas Schweiß von der Stirn.
»Macht Platz!«, rief Volvo und schob Rigga weiter. »Das kleine Orakel hat Besseres zu tun, als sich an euren wohlgenährten Bäuchen vorbeizudrängen!«
Rigga bemühte sich, nicht zu fallen und auch nicht zwischen irgendwelchen Körpern zerquetscht zu werden. Doch die Menge war dicht und ziemlich unnachgiebig. Als sie sich an einer besonders umfangreichen Dame vorbeidrängte, die einen Hut trug, der besser zu einem Zirkus gepasst hätte, passte sie nicht auf. Die Dame drehte sich, fuchtelte mit ihren Armen und ihr Ellenbogen krachte direkt auf Riggas Nase.
»Autsch!«, rief Rigga und sah kurz mehr Sterne als sonst. Sie ruderte mit ihren Armen um nicht zu fallen und griff panisch nach dem Erstbesten, das sie zu fassen bekam. Ihre Hände fanden das Kleid der Dame, und mit einem lauten Ratsch gab der Stoff nach. Rigga landete unsanft auf ihrem Allerwertesten und eine Flut aus Tüll und Seide ergoss sich über sie.
»Mein Kleid!«, kreischte die Dame mit hochrotem Kopf. Sie riss es von Rigga fort, die kurz sah, dass diese Dame besser ein Unterkleid getragen hätte. »Guckt nicht so!« Die Dame hielt den zerrissenen Stoff vor ihren Körper und stürmte mit einer Mischung aus Weinen und Zetern aus dem Saal.
Ein unterdrücktes Lachen ging durch die Menge. Doch dann hörte Rigga die Stimme ihres Königs.
»Rigga Kalkwinter. Wie immer bringst du frischen Wind in meine Hallen.« Die Menge gab nun den Weg frei und Rigga, die von Volvo wieder auf die Beine gezogen wurde, sah König Artur breit schmunzelnd vor seinem Thron stehen.
Rigga strich ihr Kleid glatt, fuhr sich nervös durch die Haare und bemühte sich um ein Lächeln. »Eure Majestät, sowas nennt man wohl einen strategischen Einstieg.«
Der König lachte und die Menge tat es ihm nach. Er winkte Rigga zu sich und hob beide Hände. Das Lachen im Thronsaal erstarb. »Rigga Kalkwinter hat viel riskiert, um hinter das Geheimnis des Waldes der Monster zu kommen. Es ist an der Zeit, ihren Bericht zu hören.« Er lächelte Rigga aufmunternd zu.
Rigga schluckte und fühlte sich unbehaglich. Sie war es gewohnt, dass man sie anstarrte. Doch diesmal erwartete man keine Prophezeiung von ihr, sondern einen Bericht.
Sie hob das Kinn, versuchte sich etwas größer zu machen und begann. »Eure Majestät, geehrte Gäste. Meine Zeit im Monsterlager war sehr lehrreich. Ich habe erkannt, dass dieser Wald nicht nur gefährliche Monster beherbergt, sondern vielleicht etwas, dass ganz Antia bedrohen könnte.«
Sie sah viele fragende Gesichter, aber wenigstens lachte niemand. »Als die Riesin Puschel meine Hilfe wollte…«
»Eine Riesin?« Ein Fürst mit einem seltsam verdrehten Schnurrbart hob die Hand. »Riesen sind doch Monster. Denen hilft man nicht.«
Rigga sah ihn scharf an. »Puschel ist eine Heilerin und hat vielen Monsterjägern das Leben gerettet. Sie ist eine Riesin, aber kein Monster.«
Der Fürst machte eine abfällige Handbewegung, sagte aber nichts weiter.
»Puschel schickte mich zu einer Höhle im Wald.« Sie sah kurz zum König, der ihr zunickte. »In dieser Höhle traf ich auf eines der seltensten Monster oder Wesen. Es war ein Wollhorn, das die Höhle bewohnte. Von ihm habe ich meine Informationen.«
»Ein Wollhorn?« Eine dürre Frau mit langem Hals und langer Nase sah sie ungläubig an. »So etwas gibt es gar nicht. Ich glaube, du lügst dir was zusammen.«
Rigga spürte wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie wollte den skeptischen Blicken ausweichen, doch dann hörte sie die Stimme. »Ich vertraue dem Wort von Rigga.« Sie blinzelte und sah Adalia, die oberste Schamanin, lächelnd nicken. Und eine nach der anderen, stimmten weitere mächtige Frauen ein. Annwn, Königin von Nebelheim, ebenso wie Kaelith Adler-Ei, die Leiterin der Lichtturmakademie. Für einen Moment drohten Rigga die Tränen zu kommen – nicht aus Schwäche, sondern aus Dankbarkeit.
»Also weiter«, sagte König Artur. »Ich vertraue ebenfalls auf dein Wort.«
Rigga nickte. »Das Herz des Waldes der Monster ist die Stadt Vacryppo, eine verborgene Stadt, in der das Flüstervolk lebt.«
»Das Flüstervolk?«, sagte der schnurrbärtige Fürst kopfschüttelnd. »Sollen wir uns etwa vor ein paar flüsternden Gespenstern fürchten?«
Rigga begegnete seinem Blick. »Nur wenn Sie gerne auf unsichtbare Fallen treten, die ihre Beute mit einem einzigen Wort vernichten.«
Sie hob den Kopf ein wenig. »Doch obwohl das Wollhorn eine der mächtigsten Kreaturen war, die ich je gesehen habe, hat es mich gewarnt.«
»Gewarnt? Wovor?« fragte ein Baron mit hochrotem Gesicht. »Vor weiteren Monstern?«
Rigga schüttelte den Kopf. »Vor dem Obermotz«, sagte sie laut und die Menge verstummte. »Der Obermotz – ein Name, den das Wollhorn nur flüsternd aussprach. Er führt Experimente durch, die die Balance der Welt gefährden. Seine Macht wächst, und er spielt mit Kräften, die niemand kontrollieren kann. Das Flüstervolk beobachtet ihn, doch es greift nicht ein.« Sie senkte den Kopf und trat einen Schritt zurück. König Artur nickte nachdenklich und klatschte schließlich in die Hände. »Vielen Dank, Rigga.«
Rigga verneigte sich leicht und wurde zur Tür durchgelassen. Ihr Herz schlug heftig, doch als sie den Thronsaal verließ, warteten Volvo, Garo, Kazia und ihr Vater Lohok auf sie.
»Meine Tochter!«, rief Lohok stolz, während er sie fest umarmte. »Du hast sie alle beeindruckt!«
Rigga befreite sich aus seiner Umklammerung. »Beeindruckt ist das falsche Wort. Ich habe einer Frau das Kleid heruntergezogen, Vater.«
Volvo legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Das ist Diplomatie, Rigga. Du hast sie auf ihre Grundwerte reduziert.«
»Großartig«, murmelte Rigga und seufzte tief.
Rigga trat mit Kazia, Volvo und Garo in die riesige Küche der Burg. Der Raum war lebendig wie ein Jahrmarkt, vollgestopft mit Dienern und Gesinde, die sich zwischen dampfenden Töpfen und überquellenden Tellern hindurchwuselten. Der Duft von gebratenem Fleisch, frisch gebackenem Brot und würzigem Eintopf hing schwer in der Luft, während das Klappern von Geschirr und das Gebell der Köchin durch den Raum hallten.
»Rigga!« Eine vertraute Stimme ließ sie aufblicken, gerade rechtzeitig, um von einem Wirbelwind aus blondem Haar und großen Augen umarmt zu werden.
»Bizi!« Rigga stolperte nach hinten, trat dabei auf den Saum ihres Mantels und hätte beinahe einen Stapel Teller umgerissen, wenn Kazia sie nicht im letzten Moment festgehalten hätte.
»Du bist zurück!« Bizi drückte Rigga fest an sich und ließ sie nicht los. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«
Rigga japste nach Luft. »Sorgen um mich? Oder um die armen Monster, die es mit mir zu tun bekommen haben?«
Bizi grinste und ließ sie endlich los. »Beides! Aber vor allem um dich.« Sie wandte sich an Kazia und öffnete die Arme. »Und du bist?«
»Nicht so umarmungsbedürftig«, murmelte Kazia, doch Bizi drückte sie trotzdem. »Willkommen in der Burg!«
Rigga unterdrückte ein Kichern, während Kazia mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck versuchte, sich aus Bizis Umarmung zu winden. Dann bemerkte sie Abraxo, der abseits stand und sie schüchtern musterte.
Mit seiner grünen Haut und den wild abstehenden orangeroten Haaren war der Kobold schwer zu übersehen. Sein eines Auge war ein schmaler Schlitz, während das andere rund wie ein Teller war. Abraxo half dem Foltermeister und war, soweit Rigga wusste, heimlich in Bizi verliebt.
»Abraxo!« Rigga winkte ihm zu. »Komm her, du musst mich nicht aus der Entfernung anstarren.«
Abraxo trat zögernd näher und blickte verlegen zu Bizi, die gerade Kazia losgelassen hatte. Dabei spielte er unsicher an seiner Schürze herum. »Ähm… schön, dass du zurück bist, Rigga.« Sein Blick huschte sofort wieder zu der blonden Küchenhilfe, die ihm ein strahlendes Lächeln schenkte. Abraxo schien zu schmelzen.
»Schön, dass du nicht mehr so viel wegläufst, wenn Bizi da ist«, sagte Rigga und grinste schelmisch. Abraxo errötete – oder wurde noch grüner, es war schwer zu sagen – und murmelte etwas Unverständliches.
Bevor Rigga weiterreden konnte, ertönte ein dröhnendes »RIGGA KALKWINTER!« durch die Küche, das alle Gespräche verstummen ließ. Fritzarike Knochenbau, die fadendünne Köchin, stand in der Mitte der Küche und hielt einen Becher warmer Milch in der Hand. Ihre Stirn war gerunzelt, und ihre Stimme ließ vermutlich jeden Hund im Umkreis von fünf Meilen erzittern.
»Endlich bist du hier, Mädchen!«, rief sie und stapfte auf Rigga zu. Der Raum war plötzlich still, alle Augen waren auf Rigga gerichtet. Diese versuchte, sich möglichst klein zu machen, was schwierig war, wenn Fritzarike auf einen zusteuerte.
»Ähm… hallo, Fritzarike«, brachte Rigga hervor, kurz bevor die Köchin sie in eine unerwartet sanfte Umarmung zog. »Wir haben uns Sorgen gemacht«, murmelte Fritzarike, während Rigga das Gefühl hatte, von einem besonders knochigen Schlangenbaum umarmt zu werden.
»Ich… äh, danke?«, brachte Rigga hervor.
Als Fritzarike sie endlich losließ, drückte sie ihr den Becher warmer Milch in die Hände. Rigga hielt ihn wie einen Schatz und spürte, wie die Wärme ihre kalten Finger durchströmte. Der Duft von frischer Milch ließ sie an ihre Zeit in der Burg denken, bevor das Abenteuer im Wald begann. »Oh, das habe ich vermisst“, murmelte sie und nahm einen vorsichtigen Schluck.
»Wer kümmert sich um mich? Ich werde einfach ignoriert.«
»Oh, ich ignoriere dich nicht!«, rief Bizi und zog Kazia mit einem Lächeln in eine weitere Umarmung. Rigga prustete vor Lachen, als Kazia ein leises »Warum ich?« murmelte.
Inmitten des Chaos fühlte Rigga ein warmes Gefühl der Zugehörigkeit. Die überfüllte Küche, das laute Klappern von Töpfen und Pfannen, die fröhlichen Stimmen – all das erinnerte sie daran, dass sie nicht allein war. Hier, zwischen Bizi, Abraxo und sogar der brummigen Kazia, hatte sie Freunde, die sich wirklich um sie kümmerten.
Sie nahm einen weiteren Schluck von ihrer Milch und lächelte. »Es ist gut, wieder zu Hause zu sein.«
